Die Studie, die im von der Corona-Epidemie in NRW zuerst und besonders betroffenen Heinsberg durchgeführt wurde, erhielt bundesweit besondere Aufmerksamkeit. Wissenschaftler der Universität Bonn um den Virologen Hendrik Streeck hatten vor Ort eine groß angelegte Untersuchung durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie lieferten der NRW-Landesregierung von Armin Laschet die Rechtfertigung für ihren Kurs, der auf schnelle und umfassende Lockerungen der Corona-bedingten Einschränkungen, insbesondere für die Wirtschaft, drängte. Um die Studie medial zu begleiten und die – offenbar entwarnenden – Ergebnisse öffentlichkeitswirksam zur Schau zu stellen, arbeitete den Wissenschaftlern die PR-Agentur „Storymachine“ zu. Entgegen seiner bisherigen Beteuerungen musste Armin Laschet nun auf SPD-Anfrage einräumen, schon seit Anfang April von der Beteiligung von „Storymachine“ gewusst zu haben.
Die Forscher veröffentlichten auch Zwischenergebnisse, die die wissenschaftliche Basis für die von der Landesregierung propagierte schnelle und umfassende Lockerung der Corona-Beschränkungen zu geben schienen. Die Ergebnisse der Studie ließen unter anderem auf eine höhere Immunitätsrate in der Bevölkerung schließen, als bisher angenommen wurde – ein Grund, der für weitere Lockerungen sprechen sollte. Die zugrunde liegenden Annahmen der Studie, ebenso wie ihre Aussagen, wurden von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit allerdings stark angezweifelt.
Warum eine PR-Agentur? Finanzierung mit Beigeschmack
Die PR-Agentur „Storymachine“ von Kai Diekmann, Philipp Jessen und Michael Mronz organisierte die Öffentlichkeitsarbeit der Studie. Warum eine wissenschaftliche Studie von einer PR-Agentur begleitet werden musste, erscheint auf den ersten Blick fragwürdig. Dass Armin Laschet einen Monat lang über sein Wissen zur Beteiligung dieser PR-Agentur log, lässt diese Frage in einem anderen Licht erscheinen. Tatsache ist, dass „Storymachine“ die Öffentlichkeitsarbeit für die Studie übernahm, über soziale Medien Zwischenergebnisse publizierte und den beteiligten Personen Formulierungen für ihre öffentlichen Auftritte vorgab.
Die Studie selber wurde von der NRW-Landesregierung mit 65.000 Euro bezuschusst. Die Arbeit der Agentur finanzierten nach Angaben von „Storymachine“ die Unternehmen Deutsche Glasfaser und Gries Deco Holding GmbH mit jeweils 30.000 Euro – letztere ist vor allem im Einzelhandel aktiv, sie dürfte also aufgrund der Corona-bedingten vorübergehenden Schließungen ihrer Geschäfte ein besonderes Interesse an schnellen Lockerungen gehabt haben. Diese hatten die Forscher der Studie in ihren Ergebnissen empfohlen.
Exit propagieren – ohne Strategie
Das gilt auch für Armin Laschet. Erstens drückt ihm die nordrhein-westfälische Wirtschaft die Pistole auf die Brust. Zweitens steht er im inoffiziellen Fernduell mit seinem bayrischen Ministerpräsidentenkollegen Markus Söder um die Nominierung zum Kanzlerkandidaten der Union. Die erste Runde hatte Laschet klar verloren – Söder hatte sich mit seinen strikten Vorgaben zum Lock-Down in Bayern in der öffentlichen Meinung als Entscheider profiliert. Laschet hingegen zögerte. In der Debatte um eine Aufhebung der Beschränkungen und Öffnungen der Wirtschaft sollte ihm das wohl nicht nochmal passieren. Als erster sprach er von Lockerungen nach Ostern – dem Termin, an dem die Heinsberg-Studie vorgestellt werden sollte. In Abgrenzung zur Bundeskanzlerin. Die Legitimation dafür holte er sich über Umwege durch eine Studie, die solche Lockerungen befürwortet – begleitet durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit von „Storymachine“. Das Problem, mit dem Schulen, Unternehmen und Menschen in Nordrhein-Westfalen nun zu kämpfen haben: Armin Laschet hat es verpasst, seine politisch gewollte und mit Streeck gerechtfertigte Exit-Entscheidung mit einem klaren und verlässlichen Konzept auszustatten. Die Schulöffnungen endeten im Chaos. Die Betreuungssituation von Kleinkindern, die insbesondere berufstätigen Eltern zu schaffen macht, bleibt ungeklärt. Und Unternehmen vermissen eine verlässliche Aussage dazu, wie sie mit Fragen der Haftung oder der Stornierung von Leistungen umgehen sollen und ob ihr Hygienekonzept ausreichend ist.
Beispiel Schule
Das Beispiel Schule offenbart bereits die Planlosigkeit der Landesregierung. Der Ministerpräsident und die Schulministerin hatten an Ostern verkündet, dass der Shutdown beendet werden solle und eine Rückkehr in die Normalität angestrebt werde. Hierbei wurde in der breiten Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, dass bereits in der nächsten Woche die Schulen wieder ihre Türen öffnen würden. Es folgten widersprüchliche Schulmails und Äußerungen vor der Presse. Der Ministerpräsident korrigierte seine Schulministerin öffentlich. Das Schulsystem planvoll wieder hochzufahren ist nun einmal eine größere Herausforderung, als es herunterzufahren.
Jeder und jedem aus der Schulpraxis war bewusst, dass durch die Entscheidung, Prüfungen durchzuführen, ein großer Teil des Lehrpersonals gebunden würde und weitere Jahrgangsstufen (ohne Abschlussprüfungen) nicht parallel unterrichtet werden könnten. Statt dies offen zu kommunizieren wurde geschwiegen. Gleichzeitig wurde Gesundheitsämtern und Schulleitungen quasi ohne Vorlauf die Verantwortung für Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen zugeschoben. Schulleitungen, die digitale Endgeräte an Schülerinnen und Schüler gaben, und Lehrerinnen und Lehrer die Videoplattformen nutzten, taten das ohne Rückendeckung der Schulministerin und ohne Rechtssicherheit. Die – unverändert – notwendigen klaren Vorgaben wurden verpasst.
Um es mit den Worten einer Schulleiterin zu sagen: Wir können keine Verordnungen umsetzen, die wir abends um halb elf bekommen und die um Mitternacht in Kraft treten. Erst planen, dann umsetzen – nicht umgekehrt. Vertrauen verspielt man auch, wenn man als Regierung keine Verantwortung für eine planlose Schulöffnung übernimmt.
Laschets Verhalten schädigt auch das Vertrauen in die Demokratie
Bürgerinnen und Bürger verlieren das Vertrauen in die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Aussagen, wenn ihnen der Makel einer fragwürdigen Finanzierung durch Unternehmen, die an bestimmten Ergebnissen interessiert sind, anhaftet. Eine so wichtige Entscheidungsgrundlage, zu der die Heinsberg-Studie durch Armin Laschet vorgeblich gemacht wurde, muss aber über jeden Zweifel erhaben sein. Wissenschaftliche Forschung darf Ergebnisse nicht auf ein bestimmtes Ziel ausrichten, sondern muss aufgrund von Ergebnissen ein Ziel formulieren.
Wer vor wenigen Wochen noch von einer Bedrohung auf Leben und Tod spricht, muss für die Organisation eines Exits aus massiven Einschränkungen der Grundrechte unserer Bürgerinnen und Bürger erst einen Plan entwickeln und dann Termine setzen. Sonst verliert es an Akzeptanz.
Deswegen ist dieses Verhalten von Armin Laschet Gift für die Demokratie. Bürgerinnen und Bürger verlieren das Vertrauen in politische Entscheidungsträgerinnen und -träger, wenn diese in einer Krise den Eindruck haben, es gehe mehr um deren persönliche Agenda als um sie. Die erfolgreiche Bewältigung der Pandemie in den ersten Wochen wird dann nachträglich nicht mehr verstanden als das was es war, nämlich notwendig und richtig.
Als Reaktion auf die allgemeine Unsicherheit und das aus mangelnder sorgfältig und planvoller Vorbereitung entstandene Chaos begegnen manche Bürgerinnen und Bürger den aktuellen Verordnungen und Entscheidungsprozessen nicht mit gesunder demokratischer Kritik und inhaltlicher Auseinandersetzung. Stattdessen werden Politikerinnen und Politiker von Teilen der Bevölkerung pauschal verunglimpft und ihre Argumente und Vorhaben grundsätzlich als illegitim bezeichnet. Enttäuschte und zweifelnde Menschen wenden sich Populisten zu, die vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Themen und momentan vor allem Verschwörungen anbieten.
In der Krise braucht es Orientierung
In Zeiten der Krise benötigen Menschen einen durchdachten Plan und konkrete Konzepte der Regierung. Es braucht Kompetenz und Führungsstärke. Schon Helmut Schmidt hat gesagt, dass sich in der Krise der wahre Charakter zeigt. Die CDU hat ihn im Landtag zitiert. Leider nur mit dem Balken im eigenen Auge. Und das sehen wir während der Corona-Krise sehr deutlich: Die CDU geführte Landesregierung stellt, wie es scheint, individuelle Interessen ihres Ministerpräsidenten vor einen planvollen Weg für die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen.
Düsseldorf, den 16. Mai 2020