Zurück in die Zukunft? – Die Schule des 20. Jahrhunderts als Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts?

„Mehr Zeit für unsere Kinder“ war für uns Sozialdemokrat*innen in den Diskussionen zu G8/G9 der Beweggrund eine individuelle Wahlmöglichkeit zwischen G8 und G9 zu schaffen. Die neue NRW-Landesregierung hat mit ihrer Leitentscheidung, die Gymnasialzeit wieder auf neun Jahre festzulegen, dafür gesorgt, dass spätestens in zwei Jahren wieder alle Schulen zu G9 zurückkehren.

Damit ist die Entscheidung getroffen. Jetzt geht es darum, die Umstellung vernünftig und zum Wohle der Kinder umzusetzen. Ein Jahr mehr Schule, das muss wohl überlegt sein. „Einfach so wie früher“ ist der falsche Weg.

Zum großen kurzfristigen Streitpunkt entwickelt sich nun die Frage was mit den Kindern geschieht, die bereits im Gymnasium sind. „Das Wohl jedes einzelnen Kindes“ gerät dabei aus dem Blick. Fest steht, dass sich einzelne Schulen bewusst für die Beibehaltung von G8 entscheiden werden. Aus meiner Sicht ist das nicht zielführend und führt zu einer weiteren Zersplitterung im Bildungssystem. Ist die Rückkehr zu G9 auch die Abkehr vom Ganztag? Das wäre fatal, denn für Kinder und Eltern ist der Ganztag ein Gewinn. Was wird aus den positiven Entwicklungen des G8: Viele Schüler*innen haben ihr Abitur problemlos in acht Jahren erworben. An vielen Schulen haben sich bemerkenswerte Unterstützungssysteme entwickelt. Diese positiven Entwicklungen zu bewahren, gehört auch zu einer verantwortlichen Politik.

Anderseits haben wir in Gesprächen mit Schüler*innen und vielen Eltern auch kritische Stimmen gehört. Viele Eltern empfinden die Folgen der überstürzten Einführung von G8 vielerorts als stressige und Freiräume raubende Angelegenheit. In den letzten Jahren entwickelte sich in weiten Teilen der Gesellschaft der Wunsch mehr Zeit für Kinder zu ermöglichen. Jugendliche brauchen Freiräume für eine individuelle Entwicklung und Reifung. Dies sollten wir als Politik nach bestem Gewissen unterstützen.

Daher haben wir bereits in unserem Wahlprogramm festgeschrieben, dass wir eine Wahlfreiheit für Eltern und Schüler*innen einfordern, um eine Flexibilisierung des Abiturs zu ermöglichen. Wir brauchen neue und innovative Ideen, die dem einzelnen Menschen gerecht werden und die sich in unserem Bild von der Schule der Zukunft wiederfinden. Genau hier setzt das Konzept „Abitur im eigenen Takt“ an, welches auf der Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung „Abitur im eigenen Takt“ am 7.11.2017 vorgestellt wurde.

Dies sollten wir als Politik nach bestem Gewissen unterstützen.

Dabei ist es uns wichtig, G9 neu zu denken und neue Wege zu gehen. Einfach nur das Abitur wie in den 80ern/90ern wieder einführen – das wollen wir nicht! Die dringende Notwendigkeit angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts von der Digitalisierung über die künstliche Intelligenz und die mit beidem einhergehenden Veränderungen der Arbeitswelt, die Veränderung durch die ökologische Herausforderung und die weltweiter Migration, die Zunahme von Rechtspopulismus und antieuropäischer Stimmung und damit die Bewahrung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und des Friedens auf dem europäischen Kontinent sind nur einige Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt.

Die Schule soll dem einzelnen Menschen die Möglichkeit eröffnen ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Entwicklung zeigt einen Wandel im Lebenslauf und der Biografie junger Menschen. Individualisierungstendenzen eröffnen mehr Chancen und Freiräume für die individuelle Gestaltung der eigenen Biografie. Diese Tendenzen müssen daher auch im gymnasialen Bildungssystem aufgegriffen werden.

Schülerinnen und Schüler benötigen Freiräume für ihre persönliche und individuelle Entwicklung, dies muss auch in einem schulischen Kontext gefördert werden. Die Professionalität der Lehrkräfte ist gefragt, denn diese werden doch die Fähigkeit zur Wahlfreiheit der Jugendlichen überhaupt erst ausbilden. Die Wahlfreiheit verlangt bestimmte Kompetenzen und diese sind durchaus messbar. Viele Lehrerinnen und Lehrer schätzen das Mehr an Zeit für eine fundierte Bildung im ganzheitlichen Sinne. Diese Freiräume benötigen aber auch einen zeitlichen Rahmen. Durch die Möglichkeit, dass Abitur in 13 Jahren zu absolvieren haben die Schüler*innen ein Jahr mehr Zeit für die persönliche Entwicklung, da die Jahrgangsstufe 11 hinzukommt. Ähnlich wie im deutschen Ausbildungssystem sollte es die Möglichkeit für die Verkürzung der Abiturzeit geben. Durch die (Wieder-)Einführung der Sekundarstufe 1 für alle von der Klasse 5 bis zur 10 wird der Schulabschluss nach der 10. Klasse wieder zur Regel. Die Einführung der 2. Fremdsprache wieder in die 7. Klasse zu legen, ist aus Sicht vieler Experten zielführend.

Die neue Oberstufe muss Möglichkeiten für die berufliche Orientierung, soziales Engagement (z. B. freiwilliges soziales Jahr), internationalen Austausch von Schülerinnen und Schülern (z. B. Schüler-Erasmus), Praktika etc. bieten und fördern. Auf der anderen Seite müssen aber auch Schülerinnen und Schüler unterstützt werden, die ihr Abitur möglichst zügig absolvieren möchten, um ihren individuellen Lebensweg zu realisieren. Für jeden dieser Wege müssen auch weitere Gelder für Stipendien etc. zur Verfügung gestellt werden. Aber natürlich müssen auch Räume und ausreichend Lehrpersonal für diese Aufgabe vorhanden sein. Wir dürfen die Schulen mit dieser Aufgabe nicht allein lassen. Hier ist Politik am Zug und in der Verantwortung. Dafür möchte ich mich einsetzen.

Am Ende entscheiden die Schülerinnen und Schüler dann selbst, ob sie ihr Abitur in zwei oder drei Jahren absolvieren. In diesem Zusammenhang besteht Wahlfreiheit, wann welche Prüfung abgelegt wird oder ob währenddessen noch ein Auslandsaufenthalt oder ein Praktikum eingeschoben wird. Durch ein individualisierbares, kompetenzbasiertes Schulsystem besteht die Möglichkeit, den Stundenplan flexibel an die eigene Entwicklung anzupassen. Die Vorteile sind das Fördern von selbständigem  Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung.

Es wird häufig kritisiert, dass Schülerinnen und Schüler heutzutage nicht mehr so selbstständig sind, die Verantwortung für ihr Leben an Eltern oder Pädagogen delegieren oder gar das selbstständige Denken verlieren. Ich frage mich: Wie sollen Schülerinnen und Schüler diese Kompetenzen erlernen, wenn ihnen diese immerzu abgesprochen werden und alles von außen geregelt wird? Beim Abitur fängt dies an – Schülerinnen und Schüler müssen ihre Zukunft mitgestalten und entscheiden, da fängt Verantwortung für sich selbst nämlich an.

Der Erfolg des heute vorgestellten Konzeptes zeigt sich auch anhand der Umfragen bei Schüler*innen, die bereits ihr „Abitur im eigenen Takt“ erfolgreich absolviert haben.

Ein weiteres Ziel ist es für uns, Lehrer*innen in ihrer Arbeit und ihrer Professionalität ernst zu nehmen. Natürlich verlangt dieses Konzept der Individualisierung, dass die Gymnasialkollegien viel Arbeit investieren müssen. Dafür brauchen sie Zeit und natürlich passende Curricula, denn hier muss wirklich die Kompetenzorientierung im Vordergrund stehen. Hierzu sind vielerorts wertvolle Vorarbeiten geleistet worden. Insofern wäre ein Rückgriff auf die Curricula der 90er Jahre ein schwerer Fehler und verschenkte Kraft und Arbeitszeit. Der einzelne Schüler und die einzelne Schülerin müssen im Zentrum stehen.

Darüber hinaus muss verhindert werden, dass unnötigen Kosten für neue Schulbücher entstehen. Sinnvoller ist es in diesem Zusammenhang das Thema Digitalisierung stärker voranzutreiben und z. B. in Lizenzen für digitale Schulbücher und vor allem in die Nutzung interaktiver Medien und Freie Bildungsmaterialien („open educational resources“, OER) zu investieren. Das Konzept von OER ist als eine neue Art der Informationserstellung und -(ver-)teilung im Bildungsbereich zu verstehen. Die Vermittlung von Wissen basiert immer stärker auf der Verwendung des Internets und der Social Media. In diesem Zusammenhang ist es wirklich beschämend, dass LOGINEO schon wieder nicht an den Start kommt. Mit LOGINEO wird eine webbasierte Arbeitsumgebung geschaffen, die auch einen Zugang zu digitalen Schulbüchern, weiteren Lernmitteln und Lehrmaterialien bietet. Was die Lehrerinnen und Lehrer zudem unbedingt auch in diesem Zusammenhang brauchen, ist kompetente Fortbildung!

Die Kosten für die Digitalisierung der Schulen würde laut Bertelsmann-Stiftung bei 2,8 Mrd. Euro für Deutschland und damit bei 700 Millionen Euro für NRW liegen – allemal eine sinnvollere Investition als neue G9 Schulbücher NRW-weit anzuschaffen.

Zusammenfassen kann gesagt werden: Die Politik sollte die individuellen Entwicklungswege junger Menschen unterstützen und sie von ihrer Abhängigkeit von den Gegebenheiten des Elternhauses loslösen. Dafür benötigen sie die bestmöglichen Rahmenbedingungen an ihrer Schule und dieser Rahmen muss politisch gestaltet werden.

Die Entscheidung über G8/G9 darf nicht der einzelnen Schule aufgebürdet werden, hier dürfen wir uns als Politik nicht der Verantwortung entziehen.

Das Konzept „Abitur im eigenen Takt“ sollte deshalb die Ausgangslage für die weiteren politischen Überlegungen bilden.